Tempo ist keine Freiheit

Die Freiheit als Argument für eine bestimmte Forderung zu nehmen, ist in Wahrheit freiheitsfeindlich. Das gilt bei der Ablehnung von Tempolimit und Fahrverboten ebenso wie beim Ausruf, man dürfe in einem freien Land ja wohl noch mal die eine oder andere Ungeheuerlichkeit sagen. Mit dem Ruf nach Freiheit sollen eine freie Diskussion und eine freie Entscheidung in Wirklichkeit erstickt werden.

Freie Fahrt für freie Bürger – das trompetete der Allgemeine Deutsche Automobilclub (ADAC), der größte Automobilclub Westeuropas und deutscheste Verein der Welt, im Jahr 1973 erfolgreich durchs Land. Die erste Ölkrise und tausende Tote und Verletzte im Straßenverkehr – in jenem Jahr starben auf deutschen Straßen mehr als sechzehntausend Menschen – hatten den damaligen Verkehrsminister der Regierung von Bundeskanzler Willy Brandt dazu bewogen, ein allgemeines Tempolimit auf Autobahnen und Landstraßen durchzusetzen. Durchgesetzt haben sich am Ende jedoch die Gegner einer allgemeinen Geschwindigkeitsbegrenzung. Schon Anfang 1974 wurde das vorübergehende Tempolimit unter dem Druck der Öffentlichkeit wieder aufgehoben.

Im Januar des Jahres 2019 – der Sieg von ADAC und freien Bürgern wirkt bis heute nach; auch viereinhalb Jahrzehnte später gibt es in Deutschland kein allgemeines Tempolimit – tritt eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission dem Gedanken eines allgemeinen Tempolimits näher. Der amtierende Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer reagiert mit dem Morgenstern. Er sagt, derartige Überlegungen seien „gegen jeden Menschenverstand“. Mit dem Slogan „die Bürger wollen in Freiheit leben“ ruft er später auch noch die Kommunen zum Widerstand gegen drohende Diesel-Fahrverbote auf. Ein bekannter Journalist sekundiert. Er preist die fehlende Höchstgeschwindigkeit und sieht in der Autobahn „das letzte Freiheitsfeld“. Die AfD bietet bereits Aufkleber an, auf denen tatsächlich zu lesen ist „Freie Fahrt für freie Bürger“.

Perfides Framing

Von Framing spricht man dann, wenn ein Thema mit einem Oberbegriff oder gleich einem ganzen Bedeutungsrahmen versehen wird, der das Thema von vornherein inhaltlich einbettet und die vermeintlich richtige Bewertung gleich mitliefert – wer von der „Steuerlast“ statt von der „Steuerverantwortung“ des Einzelnen oder vom „Gute-Kita-Gesetz“ spricht, macht sofort klar, wie das Ganze zu bewerten ist. Framing gibt es in guter Absicht und mit einem passenden Rahmen für das angesprochene Thema. Aber dann gibt es auch das perfide Framing. Sprechende versehen dabei ein Thema absichtlich mit einem inhaltlich falschen Rahmen, um auf diese Weise einen bestimmten Eindruck zu erzeugen. Sie bezeichnen Menschen, die mit löchrigen Schlauchboten auf dem Mittelmeer ertrinken dann eben als „Asyltouristen“ oder sehen Menschen, die staatliche Hilfe erhalten, in einem kollektiven Freizeitpark.

Die Thematik eines Tempolimits auf deutschen Straßen mit dem Begriff der Freiheit zu verknüpfen, ist ein eben solcher Fall bösgläubigen und perfiden Framings. Die Frage, ob in Deutschland ein allgemeines Tempolimit eingeführt werden soll, wird dabei der Bedeutungsrahmen von Freiheit gegeben. Eine solche Verbindung von Schnellfahren und Freiheit ist grober Unsinn.

Das Freiheitsargument ist in der Praxis unbrauchbar

Falsch ist der Versuch, ein Recht auf unbegrenzte Geschwindigkeit aus dem Gedanken der Freiheit abzuleiten, schon aus praktischen Gründen: Unter Berufung auf „die Freiheit“ lässt sich keine bestimmte Erlaubnis begründen – kein Recht auf Rasen, Abtreibung, Rauchen oder nackt durch eine Fußgängerzone zu laufen. Unmittelbar aus der Freiheit resultiert keine Erlaubnis für irgendetwas. Wer Freiheit eindimensional als das Recht sieht, alles tun und lassen zu können, kommt nicht weiter. Bei einem solchen Fehlverständnis von Freiheit wäre es unmöglich, weitgehend akzeptierte Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen, die weitaus massiver sind als eine Beschränkung des Rechts, mit 250 Stundenkilometern über Autobahnen zu rasen, zu begründen. Seit 100 Jahren gilt in Deutschland die allgemeine Schulpflicht. Kinder müssen, von ihren Eltern getrennt, neun bis zehn Jahre lang zu bestimmten Zeiten mehr oder weniger stillsitzen und sich Dinge anhören und wiedergeben, die ihnen dort eine mehr oder weniger geeignete Lehrperson vormacht. Zu Hause ist den Eltern dann wiederum das vormals selbstverständliche Recht genommen, den Kleinen mit ein paar gezielten Schlägen den rechten Weg zu weisen. Wer eine schwere Straftat begangen hat, kann über Jahre in einen wenige Quadratmeter großen Raum gesperrt werden. Apotheken und finsteren Gestalten an kriminalitätsbelasteten Orten ist es gleichermaßen verboten, Heroin oder Kokain zu verkaufen. All das ist weitgehender Konsens. Einen Abgesang auf die Freiheit stimmt kein Chor an.

Rechtlicher Unsinn

Der Versuch, unter Verweis auf die Freiheit ein bestimmtes Verhalten als wahnsinnig wünschenswert und unbedingt erlaubt anzusehen, erweist sich auch nach der Grundentscheidung unserer Rechtsordnung als falsch. Freiheit allein verleiht niemandem das Recht auf ein bestimmtes Verhalten. Freiheit ist der Weg, um zu der Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Handeln zu gelangen und nicht der Bewertungsmaßstab selbst. Aus der Freiheit selbst folgt nicht, ob etwas gut oder schlecht ist, ob es erlaubt oder verboten gehört.

Das erschließt sich schon bei einem unbefangenen Blick in unser Grundgesetz, das allen in seinem Artikel 2 die Allgemeine Handlungsfreiheit gewährt: Wir dürfen demnach zwar tun und lassen, was wir wollen und was immer uns auch die abstrusesten Phantasien nahelegen. Jeder und jede darf das aber nur, „soweit er (oder sie) nicht die Rechte anderer verletzt“. Wer hätte das gedacht: Die Freiheit des einzelnen ist nach unserer Verfassung nicht grenzenlos. Es darf halt nicht jeder bedingungslos machen, was er will. Die Freiheit des einzelnen hat Schranken. Soweit diese Schranken reichen, also die Rechte anderer, dürfen Beschränkungen der Freiheit, so genannte Eingriffe in das jeweilige Grundrecht, vorgenommen werden.

Ein aktuelles Beispiel dafür, dass die bloße Berufung auf eine Freiheit weder praktisch noch rechtlich geeignet ist, um eine bestimmte Verhaltensweise als gut oder schlecht zu bewerten, hat jüngst das Bundesarbeitsgericht geliefert. Es hatte zu entscheiden, ob eine Einzelhandelskette eine Kassiererin, die ein Kopftuch trägt und damit ein islamisches Bedeckungsgebot erfüllen möchte, zwingen darf, ihr Kopftuch am Arbeitsplatz abzulegen. Auch hier wollen manche eine klare Lösung unmittelbar aus der Freiheit gewinnen: Sie sagen, dass ein Arbeitgeber ja wohl die unternehmerische Freiheit hat, in seinem Laden vorzugeben, wie die Leute sich anzuziehen haben. Doch wenn solche Freiheitsapostel sich nicht als Verfassungsfeinde und Gegner europa- und weltweit anerkannter Menschenrechte outen wollen, müssen sie einräumen, dass beim Kopftuchtragen schon auch die allgemeine Handlungsfreiheit der Kassiererin und die Religionsfreiheit eine Rolle spielen. Die eine Freiheit muss also gegen die andere abgewogen werden. Das Bundesarbeitsgericht hat selbstverständlich erkannt, dass man sich nicht einfach seine Lieblingsfreiheit raussuchen und damit das gewünschte Ergebnis begründen darf. Es hielt die erforderliche Abwägung zwischen den Freiheiten sogar für so komplex und von so vielen europarechtlichen Fragestellungen abhängig, dass es sich außerstande sah, selbst zu entscheiden, welche Freiheit denn nun vorrangig sein soll und stattdessen den Gerichtshof der Europäischen Union um Klärung gebeten hat.

Bewusst falsche Bevorzugung der eigenen Lieblingsfreiheit

Wer das Recht auf ein bestimmtes Verhalten unmittelbar aus dem Begriff der Freiheit ableitet, handelt wider besseres Wissen. Er (gefühlt ist es meistens es er und seltener sie) definiert Freiheit als die Gesamtheit all dessen, was er selber will und gerne macht. Der propagierte Freiheitsbegriff ist dann identisch mit der eigenen Lieblingsfreiheit. Dass Freiheit auch immer die der anderen einschließt und eine Freiheit mit einer anderen Freiheit im Konflikt stehen mag, ignorieren die selbsternannten Freiheitsapostel einfach. Da seit frühester Kindheit nahezu jedem klargemacht wird, dass die Freiheit des anderen auch zu berücksichtigen ist, weiß auch jeder, dass Freiheit allein als Begründung nicht ausreicht. Niemand kann sich also darauf berufen, es einfach nicht besser gewusst zu haben, wenn er eine Freiheit fordert, die es gar nicht gibt.

Der Ruf nach Freiheit ist eine Freiheitsbeschränkung

Der Rückgriff auf die Freiheit soll also gar kein Sachargument und damit gerade kein Ausgangspunkt für eine weitergehende Auseinandersetzung sein. Es handelt sich vielmehr um ein Mittel, um jede sachliche Auseinandersetzung von vornherein platt zu machen. Der Plan, auf diese Weise eine Auseinandersetzung im Keim zu ersticken, funktioniert. Das Thema Tempolimit ist nur kurz aufgeflackert. Die Gegner haben schon den Gedanken daran zur Freiheitsberaubung und für verstandeswidrig erklärt. Die Bundesregierung, zu der auch eine sozialdemokratische Umweltministerin gehört, hat rasch erklärt, das Thema stehe gar nicht auf der Agenda. Die falsche und bösgläubige Berufung auf Freiheit hat die Angst geschürt, als Gegner der Freiheit dazustehen.

Dieselbe böse Taktik, die den offenen Diskurs erstickt, zeigt sich im Übrigen auch dort, wo Pseudofreiheitskämpfer mit einer selbst definierten Meinungsfreiheit und den Worten „das wird man doch wohl noch mal sagen dürfen“ ungeheuerlichste Äußerungen rechtfertigen wollen. Und auch der Einsatz von political correctness als Kampfbegriff ist nichts anderes.

Die große Gefahr dieses freiheitsfeindlichen Rückgriffs auf Pseudofreiheiten liegt nicht in den Einzelfällen, also nicht darin, dass es eben keinen Veggie Day und fast fünfzig Jahre nach der ersten Ölkrise weiterhin kein Tempolimit gibt. Die Lage ist deshalb so ernst, weil die Freiheit selbst in Gefahr ist. Der freie Diskurs und der offene Austausch von Argumenten werden im Keim erstickt. Diejenigen, die sich am lautesten auf die Freiheit berufen, sind in Wirklichkeit deren größte Feinde. Sie erklären die Entscheidung für eine bestimmte Sicht zum Vergehen an der Freiheit und damit als von vornherein inakzeptabel und wertlos. Die Freiheit der Entscheidung für oder gegen ein Tempolimit – oder auch für oder gegen legalen Drogenhandel, ein Kopftuchverbot, Fleischkonsum, Dieselmotoren und politisch korrekte Sprache – soll beseitigt werden.

Freiheit und Mut zur Entscheidung

Sogar ausgesprochen liberale, auch bei Rasern und anderen Freiheitsaposteln einer Neigung zur Gängelung unverdächtige Theoretiker gestehen dem Menschen große Freiheit zu, haben aber auch die Hoffnung, dieser werde von seinen Freiheiten verantwortungsvoll Gebrauch machen. „Es ist besser, ein unzufriedener Mensch als ein zufriedengestelltes Schwein zu sein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr“, stellte der Philosoph John Stuart Mill Mitte des 19. Jahrhunderts fest. Dabei äußerte er sich zuversichtlich, dass der Mensch die höhere der niederen Befriedigung vorziehe. Die Freiheit ist die Möglichkeit, darüber zu entscheiden, Schwein oder Sokrates zu sein, zufrieden oder unzufrieden. Es mag gute Argumente gegen ein allgemeines Tempolimit geben. Die Freiheit selbst ist jedoch kein Argument. Sie besagt jedoch weder, dass wir alle als zufriedene Schweine über Autobahnen rasen sollen, noch dass wir als unzufriedener Sokrates einen lebenslangen Veggie Day fristen müssen.

Über Tempolimit und andere aktuelle Fragen geht es in der aktuellen Folge des Podcasts „Lauer und Wehner“.

Eine Antwort auf „Tempo ist keine Freiheit“

  1. Danke für diesen Beitrag! Genau diese Art der Analyse von aktuellen politischen Diskussionen vermisse ich aktuell im Journalismus und generell in den öffentlich rechtlichen Sendeanstalten. Weiter so, ich gebe auch eine Hörempfehlung für den Podcast.

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